Forschungsschwerpunkte
Seit Beginn meiner Tätigkeit in der Wissenschaft hat mich die Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung in China fasziniert. Sowohl meine Doktorarbeit über ‚Parteigeschichts-schreibung in der VR China‘ als auch meine Habilitationsschrift über eine methodologische Auseinandersetzung unter chinesischen Historikern behandeln die Entwicklung der chinesischen Historiographie im 20.Jahrhundert. Dabei interessieren mich sowohl Aspekte der internen Dynamik der sich als wissenschaftliche Disziplin verstehenden Geschichtsschreibung als auch deren Zusammenhang mit Nationenbildung, Staatskonsolidierung und Identitätsfindung. Mit der zunehmenden Diversifizierung der Geschichtsschreibung in der VR China, die wir seit Ende der 70er Jahre beobachten, habe ich mich auch dem Feld von Gedächtnis und Erinnerung zugewandt und in Fallstudien bezogen auf den Großen Sprung nach Vorn sowie auf die Kulturrevolution das Spannungsverhältnis von Trauma und Gedächtnis untersucht.‘
Meine Arbeiten im Bereich der chinesischen Historiographie zielen darauf ab, die Erörterung der chinesischen Geschichte zu internationalisieren, d.h. im Bereich der Methodologie das Gespräch zwischen der Historiographie in- und außerhalb des chinesischen Raumes zu ermöglichen und die gegenseitige Wahrnehmung von Geschichte einem Prozess der kontrollierten Reflexion zu unterziehen. Insofern betrachte ich meine Beiträge zum Verständnis der chinesischen Historiographie als Erörterungen zu Methode und Inhalt von Welt- bzw. Globalgeschichte und partizipiere auch in diesem Sinne an den zahlreichen Aktivitäten an der Universität Wien, die im Zusammenhang der Diskussion um Global- und Weltgeschichte stattfinden. Allerdings vertrete ich mit Arif Dirlik die Auffassung, dass die Universalität von Geschichte eine Summe ihrer jeweiligen Partikularitäten darstellt und dass es deshalb ein zentrales Anliegen der Geschichtswissenschaft sein muss, Instrumente zu entwickeln, die uns dazu befähigen, die jeweiligen Partikularitäten zu erkennen, nachzuvollziehen und als Teil des Ganzen zu verstehen. Konkreter Ausdruck dieser Auffassung ist die online-Zeitschrift Historiography East and West, die ich mit Axel Schneider (Universität Leiden) als multi-linguales und polyzentrisch ausgelegtes Diskussionsforum über die Partikularitäten der Geschichtsschreibung herausgebe.
Darüber hinaus gehe ich wie Yves Chevrier davon aus, dass in China die Erörterung der Geschichte im Zentrum des Diskurses über Politik und Moral steht. In diesem Sinne betrachte ich meine Forschung zur chinesischen Historiographie auch als Beitrag zur Erörterung der politischen und geistigen Situation in der chinesischen Welt. Insbesondere meine jüngeren Arbeiten zur Problematik der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der öffentlichen Aufarbeitung von historischen Ereignissen der maoistischen Zeit, über den Zusammenbruch der in der Ausrichtungsbewegung von Yan’an und auf dem 7.Parteitag der KPCh 1945 festgelegten „master narrative“ zur chinesischen Geschichte seit dem Opiumkrieg sind Beiträge zu dem Verhältnis von Politik und Historiographie und Auseinandersetzungen mit der von Jan Assman geprägten Diskussion über Entstehung und Wirksamkeit des kommuni-kativen bzw. kulturellen Gedächtnisses. Aktuell arbeite ich über die offizielle und inoffizielle Geschichtsschreibung zur Kulturrevolution.
Während ich meine Forschungen zur chinesischen Geschichtsschreibung des 20.Jahrhunderts als eine Form der Grundlagenforschung betrachte, hat sich mein zweiter Forschungsschwer-punkt zunehmend zu einem Bereich der angewandten Forschung entwickelt. Seit Mitte der 90er Jahre arbeite ich im Zusammenhang meiner politikwissenschaftlichen Forschung über die Situation in den chinesischen Dörfern. Alles begann mit einer Exkursion zum Problem der ländlichen Unternehmen (Township and Village Enterprise) in der Umgebung von Shanghai, die meine Studierenden aus Heidelberg und mich für 4 Wochen nach Shanghai und dessen Umland führte. Seit dem habe ich mich mit vielen Aspekten der ländlichen Entwicklung beschäftigt und dabei versucht, einen Erklärungsansatz für das Verhältnis von Staat und ländlicher Gesellschaft zu entwickeln. Wieder unter Bezug auf Yves Chevrier, aber auch in Auseinandersetzung mit Jean Oi, Christine Wong und Vivienne Shue und deren Erörterungen zur Konzeptionalisierung des ländlichen Raums, habe ich die These von der Distanz zwischen Staat und ländlicher Gesellschaft aufgestellt, die meine Magisterkandidaten, Doktoranden und ich seit dem in vielen Einzelstudien auf ihre Erklärungsmächtigkeit hin überprüft haben. Dazu gehören insbesondere Studien über die Privatisierung der ländlichen Unternehmen, über das Gesundheitssystem auf dem Land, über Land-Stadt-Migration sowie die Auswirkungen der Migration auf die Städte, aber auch Studien über die Erinnerung der chinesischen Bauern an die chinesische Revolution und die VR China unter der Führung Mao Zedongs. Derzeit entwickeln wir ein Projekt, in dem es um die Umsetzung unserer theoretischen Erkenntnisse in Politikmaßnahmen auf dem chinesischen Dorf im Bereich des Gesundheitswesens geht.
Als lange Zeit einzige ordentliche Universitätsprofessorin für Sinologie in Österreich habe ich über viele Themenbereiche unterrichtet, zu denen ich keine spezielle Forschung unternehme. Allerdings ist es mir auch stets ein Anliegen gewesen, Themenstellungen, für die meine Studierenden ein besonderes Interesse entwickeln, in meine Forschungsagenda zu integrieren und mit ihnen gemeinsam als Forschungsfeld zu bearbeiten. Da ich unter meinen 800 Studierenden an der Universität Wien ca. 250 Studierende betreue, die chinesischer Herkunft sind und überwiegend in Österreich aufgewachsen sind, liegt es nahe, die Migrationsproble-matik als neues Forschungsgebiet zu entwickeln. Bisher besteht mein Beitrag darin, mehrere Magister- und Doktorarbeiten zu betreuen, die sich mit der Integration chinesischer Migranten in Österreich unter soziologischen, ökonomischen und kulturellen Aspekten beschäftigen. Je mehr aus China kommende Migranten unter uns leben, um so mehr muss sich die Sinologie auch mit der Erwartung auseinandersetzen, einen sinnvollen Beitrag zur Integration der chinesischen Migranten in die europäischen Gesellschaften zu leisten.
In diesem Sinne haben mir meine Studierenden in den letzten Jahren deutlich gemacht, dass die zunehmend wichtige Rolle, die China in der Welt spielt, verlangt, dass die Sinologie ihre überwiegend sino-zentrische Betrachtungsweise aufgibt und sich mit Chinas Blick auf und Rolle in der Welt auseinandersetzt. Dementsprechend wird diesem von der China-Forschung häufig übersehenen Aspekt seit einiger Zeit mehr Raum in der Lehre gegeben. Zugleich betreue ich mehrere Magister- und Doktorarbeiten, die sich mit chinesischer Außenpolitik beschäftigen und habe auch in meinen wissenschaftlichen Publikationen der letzten Zeit mehrfach zu außenpolitischen Fragestellungen Stellung bezogen.
Die moderne China-Forschung, so wie ich sie betreibe, versteht sich als eine wissenschaftliche Form der Auseinandersetzung mit China und seiner Entwicklung im 20.Jahrhundert, die als interdisziplinäres Projekt angelegt ist. Sie eröffnet die Diskussion mit den methodisch definierten Fächern der Sozialwissenschaft, der Geschichts- und Kulturwissenschaft, um deren oft unhinterfragt universalistisch ausgelegten Theorien am Beispiel Chinas zu überprüfen. Darüber hinaus ist es unsere Aufgabe, neue Theoreme zu entwickeln, welche nicht nur in der Lage sind, die komplexe Entwicklung Chinas im 20.Jahrhundert angemessen zu erklären, sondern auch einen Beitrag zur Weiterentwicklung des theoretischen Repertoires der oben angesprochenen Disziplinen zu leisten. Sollte die Voraussage richtig sein, dass China seine bestimmende Stellung in der Welt wiedererlangen wird, dann kann die Wissenschaft, ohne China hineinzudenken, sich nicht mehr adäquat entwickeln. Aus der Perspektive meines Wissens über China ist jede wissenschaftliche Theorie defizitär, deren Validität nicht auch für China nachgewiesen werden kann, und jede wissenschaftliche Disziplin defizitär, die sich der unendlichen intellektuellen Herausforderung nicht stellt, China mit zu denken. Wenn diese Überlegung eines Tages selbstverständlich geworden ist, erübrigt sich das Fach Sinologie, denn das Wissen über China ist nicht mehr das exotisch wirkende Spezialwissen einzelner, sondern so weit verbreitet, dass es keiner Spezialisten mehr bedarf, die das Wissen über China in all seinen unterschiedlichen Aspekten verfügbar machen.
Focal points of my research
Since the very beginning of my research activities I have been fascinated by historiography in China. Both my dissertation on party historiography in the PRC and my postdoctoral thesis on a methodological dispute amongst Chinese historians deal with the development of Chinese historiography in the 20th century. I am interested in aspects of the inner dynamics of historiography as an academic discipline as well as in its relationship with the process of nation building, and the formation of identity. With the increasing diversification of historiography in the PRC since the late 1970ies, I have also turned to the field of memory and recollection. In this field I have lately conducted several case studies on the Great Leap Forward and the Cultural Revolution addressing the issue of trauma and memory.
My work in the field of Chinese historiography is aimed at internationalizing the discussion of Chinese history and at facilitating the exchange of ideas related to issues of historiography inside and outside China. I am interested in methodological questions and in critically examining the mutual perception of history. In this sense I view my contributions to the understanding of Chinese historiography as an integral part of ongoing discussions on world- and global history. That is why I participate in numerous activities at the University of Vienna which are concerned with the discussion of these issues. With Arif Dirlik I share the conception of historical universality as the sum of its particularities, wherefore a central concern of the science of history has to be the development of instruments that allow us to discover these particularities, to comprehend them, and to understand them as a part of the whole. A concrete expression of this conception is the Leiden Series in Comparative Historiography, which I edit together with Axel Schneider ( University of Göttingen).
In addition I conceive like Yves Chevrier of history as the center of the discourse about politics and ethics in China. I this sense, I view my research on Chinese historiography also as a contribution to the discussion on the political and intellectual situation in the Chinese world. Especially my recent work related to the possibility of a public reappraisal of historical events of the Maoist period, to the collapse of the “master narrative” established during the Yan’an Rectification Campaign covering Chinese history since the Opium Wars is a contribution to the analysis of the relationship between politics and historiography and the debate on communicative and a cultural memory as described by Jan Assmann.
Based on years of theoretical explorations into the field of historiography, I edited a book on “Broken Narratives” in 2014 focusing on the change of history and identity since the end of the Cold War both in Europe and East Asia. With the help of several colleagues we tried to show how during 25 years after the end of the Cold War historiography, especially in its non-academic forms, was successful in overcoming a binary, black and white for of writing the history of the last 100 years. In this process, otherwise neglected aspects of the history of the 20th century suddenly came to our attention. However, before all this new insight could be written into coherent narratives, the period already came to an end. Now, the readership seems to be longing for black-and-white narratives again.
Whereas I perceive my work on Chinese historiography of the 20th century as a form of basic research, I have developed a second focus on applied research. Since the middle of the 1990ies I have been investigating the situation in Chinese villages in the context of my research in political science. Everything started with an excursion on the problems of township and village enterprises in the vicinity of Shanghai which lead my students from Heidelberg and myself to Shanghai and the surrounding area for four weeks. Since then I have been engaged with many aspects of rural development, and I have tried to develop a theoretical approach explaining the relationship between state and rural society. Again with reference to Yves Chevrier, but also influenced by Jean Oi, Christine Wong and Vivienne Shue, I have set up a hypothesis on the distance of state and rural society, which my master and doctoral students and I have tested in several studies with regard to its explanatory power. These studies include investigations of the transfer of rural enterprises into private ownership, the public health system in the countryside, migration from the countryside to the cities and its impact on the cities, but also of the memories of Chinese peasants of the Chinese Revolution and the PRC under the leadership of Mao Zedong. Currently we are working on the translation of our theoretical knowledge into policy measures by trying to support the implementation of public health policies in the Chinese countryside as well as among minorities in the PRC.
I am currently writing a book with Professor Wolfgang Schwentker from Osaka University as part of the Neue Fischer Weltgeschichte on East Asia in the 19th and the 20th centuries. In this book, we are trying to go beyond the conventional approach to this topic which usually is no more than the sum of three national histories related to China, Japan and Korea. Based on the theory of social constructivism, we are developing a narrative of the three countries building, destroying, and re-building the region of East Asia by their inter-relatedness as well as their isolation from each other.
Having been for many years the only full professor of sinology in Austria for a long time , I lectured many subjects I am not conducting any research on. I have certainly always taken a personal interest in including areas of research my students are interested in into my personal agenda and to work on these fields jointly. Given the fact that of the 800 students I supervise at the University of Vienna, 250 are of Chinese origin but have grown up in Austria, it was obvious to develop the question of migration as a new area of research. So far, my contribution consisted in the supervision of several master- and doctoral theses on the topic of the integration of Chinese migrants into Austria and other places under sociological, economic and cultural aspects. The more migrants from China live amongst us, the more sinology has to cope with the expectation of making a contribution to the integration of Chinese migrants into European societies.
In this sense, my students have made it clear to me over the past years that the increasingly important role that China plays in the world demands from sinology to give up its predominantly sino-centered way of looking at things and to devote itself to looking at the view that China has on and the role it plays in the world. Accordingly, this frequently overlooked aspect is given more room in terms of teaching and public debate. At the same time, I supervise several master- and doctoral theses on the topic of Chinese foreign policy and I have recently expressed my view on questions of foreign policy in several publications.
Modern research on China the way I practice it considers itself to be an academic from of interdisciplinary engagement with China and its development in the 20th century. It opens the discussion with the disciplines such as the social sciences to put their often universalistic but in this regard unexamined theories to the test of China. I addition to that, it is our responsibility to develop new theorems that are not only capable of explaining the complex development of China in the 20th century but also to make a contribution to the further elaboration of the theoretical repertoire of the aforementioned disciplines. As we observe China regaining its influential position in the world, we have to realize that we cannot understand the world without understanding China. From the perspective of my knowledge of China, every scientific theory, the validity of which is not proven for China, and every scientific theory, that does not stand up to the infinite intellectual challenge to incorporate China, is incomplete. When this idea will one day be regarded as a matter of fact, the discipline of sinology will be obsolete, as knowledge about China will not be regarded as exotic, but will be widely spread, so that specialists that make the knowledge about China available in all its diverse aspects and to a public largely uniformed about China, will not be needed any more.